12.09.2022 | Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfordern Systemdenken und Modellierung auf regionaler und globaler Ebene etwa im Hinblick auf Wetterextreme, marine Hitzewellen, durch den globalen Wandel verursachte Auswirkungen auf tropische Küsten und ihre Gemeinschaften, auf Korallenriffe, Mangroven oder Ökosystemleistungen im Allgemeinen. Modelle können die Vorhersage und Entwicklung von Anpassungsbemühungen in einem langfristigen Rahmen zu unterstützen. In der Reihe Forschung kompakt" beschreibt Prof. Dr. Jan O. Haerter die Herausforderungen bei der Modellierung des Gleichgewichts in einem Ökosystem.

Was war die Ausgangsfrage der Studie?

Bei unserer Studie haben wir ein einfaches theoretisches Modell unter die Lupe genommen, das seit Jahrzehnten als Standard verwendet wird, um den Gleichgewichtszustand eines Ökosystems zu untersuchen. Die sogenannten Zufallsmatrizen sind Tabellen, deren Koeffizienten Zufallszahlen sind. Verwendet man diese Methode, dann geht man davon aus, dass sich der Gleichgewichtszustand eines dynamischen Systems – in unserem Fall eines Ökosystems – durch eine lineare Stabilitätsanalyse charakterisieren lässt und dass bestimmte Abhängigkeiten voneinander unabhängig sind.  

Was heißt das genau?

Ein Ökosystem, also die Populationen aller Arten, kann sich in einem stabilen oder labilen Gleichgewicht befinden. Wenn diese Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Komponenten eines Ökosystems ausgeglichen sind, ist ein ökologisches Gleichgewicht erreicht. Ist das System stabil, können ihm auch kleinere Störungen, etwa durch Schwankungen der Temperatur oder der verfügbaren Nährstoffe, nichts anhaben und die Populationen kehren nach einer gewissen Zeit wieder zum Gleichgewicht zurück.

Bei einem labilen System führt die Störung allerdings dazu, dass sich das Gleichgewicht nicht mehr einstellt, sondern die Arten einen potenziell komplizierten Gang in ein komplett neues Gleichgewicht antreten – häufig verbunden mit dem Aussterben einzelner Arten. Dann wird ein Kipppunkt erreicht und das Ökosystem hat sich grundlegend verändert. Wir wollen genau letzteres besser verstehen und mit Modellen Vorhersagen treffen, wann und wie das ökologische Gleichgewicht eines Systems ins Wanken geraten oder gar zusammenbrechen kann.

Schematische Darstellung für zwei Arten (grüner Punkt)
Abbildung: Schematische Darstellung für zwei Arten (grüner Punkt). Eine Raumrichtung ist stabil, die andere labil in Bezug auf Störungen (links). Beide Raumrichtungen sind stabil (rechts).


Und dazu eignet sich die bisher angewandte Berechnungsmethode der Zufallsmatrizen nicht mehr?
 

Genau das ist die Frage. Unsere Studie setzt sich kritisch mit dem etablierten Ansatz der Zufallsmatrizen auseinander. Wir fragen, ob es überhaupt zulässig ist, das (ökologische) Gleichgewicht durch die Anwendung von Zufallsmatrizen in der Modellierung zu beschreiben. Die Beschreibung eines komplexen Systems, bestehend aus vielen verschiedenen Variablen, die z.B. Artenpopulationen entsprechen können, geht auf die bahnbrechende Arbeit von Robert May, 1972, zurück. May erkannte, dass sich das mathematische Wissen über Zufallsmatrizen auf komplexe Systeme anwenden lässt – unter einer entscheidenden Annahme, dass diese Zufallsmatrizen überhaupt den Gleichgewichtszustand eines komplexen Systems repräsentieren. (May, Robert M. "Will a large complex system be stable?." Nature 238.5364 (1972): 413-414.)

Wie geht Ihr stattdessen bei Eurem Ansatz vor? 

Das Gleichgewicht in einem Ökosystem beruht auf Selbstregulation. Wir ‚erlauben‘ in unserer Analyse zunächst, dass sich ein Ökosystem selbst organisiert, indem Spezies nach und nach zu einem bestehenden Ökosystem ‚hinzugefügt‘ werden und mit dem bestehenden Ökosystem wechselwirken – zum Beispiel als Jäger eines Beutetieres oder als Virus, das ein Bakterium angreift. Wir benutzen dafür etablierte Gleichungen der Populationsdynamik, nämlich die verallgemeinerten Lotka-Volterra Gleichungen. Diese setzen die Arten in konkrete Beziehungen zueinander.

Am Anfang unserer Computermodellierung starten wir mit einer einzigen Spezies und fügen der Reihe nach weitere hinzu, sodass nach und nach in der Theorie ‚künstliche‘ Ökosysteme entstehen, die mitunter zehn Spezies und mehr enthalten. Wichtig ist, dass wir immer sicherstellen, dass die Spezies ein Gleichgewicht erreichen, das nachhaltig ist, also stabil. Falls dies nicht der Fall ist, ergänzen wir ein Aussterben von ‚schwachen‘, also unzureichend angepassten/fitten Spezies bis das Gleichgewicht unter allen verbleibenden Spezies hergestellt ist. So können wir nach und nach ein künstliches System mit hunderttausenden plausiblen Ökosystemzuständen erstellen. 

Und wie nun kommen die Zufallsmatrizen ins Spiel?

Wir fragen jetzt jeweils, ob diese verschiedenen Zustände von Ökosystemen durch Zufallsmatrizen beschrieben werden könnten und ziehen einen Vergleich. Die Stabilität eines ökologischen Gleichgewichts wird bei der Anwendung von Zufallsmatrizen durch deren sogenannte Eigenwerte beschrieben (Abbildung). Die Eigenwerte beschreiben die zeitliche Entwicklung des Ökosystems: bei einem positiven Eigenwert verstärkt sich selbst eine kleine Auslenkung aus dem Gleichgewicht, während bei einem negativen Eigenwert kleine Auslenkungen grundsätzlich verringert werden. Die Eigenwerte bilden eine interessante geometrische Struktur, da sie alle in ein Kreisgebiet im komplexen Zahlenraum fallen. Die Dichte der komplexen Zahlen ist dabei statistisch konstant innerhalb dieses Kreises. Diese einfache geometrische Kreisstruktur erlaubt es uns nun, auf recht prägnante Weise die Eigenwerte ‚unserer‘ zuvor theoretisch kreierten – und im Zuge einer angenommenen Evolution angepassten – Ökosysteme zu vergleichen. Das Resultat ist eindeutig: die evolutionär gewachsenen Ökosysteme weisen eine bimodale Verteilung der Eigenwerte auf. Bei dieser bimodalen Verteilung gruppieren sich die Eigenwerte an zwei entgegengesetzten Extrembereichen, wohingegen sie bei einem Kreis eher im mittleren Bereich liegen würden.

Was erschließt sich daraus?

Wir folgern, dass tatsächlich evolvierte Ökosysteme einen komplexen ‚Filter‘, nämlich den evolutionären Prozess, durchlaufen, bis sie schließlich eine selbstorganisierte geometrische Verteilung der Eigenwerte erreichen, die markant von der Geometrie der Zufallsmatrizen abweicht. Unsere Studie provoziert also (hoffentlich) ein Umdenken in Bezug auf die Rolle von Zufallsmatrizen als Nullmodell für Ökosystem-Stabilität.

Bei der Studie geht es um theoretische Modelle und Berechnungen. Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?

Die ‚Diversitäts-Stabilitäts-Debatte‘ (McCann, 2000) versucht der grundlegenden, und aktuellen, Frage näher zu kommen, ob sich die Stabilität eines Ökosystem verbessert oder verschlechtert, wenn einzelne Arten aus dem Netzwerk herausgerissen werden, z.B. durch menschliche Ausbeutung von Ressourcen. Wir folgern aus unserer Studie, dass es keinen einfachen Weg hin zu Ökosystem-Theorien gibt, welche die Diversitäts-Stabilitäts-Debatte klären. Vielmehr muss der evolutionäre Pfad, der durch die Arten in einem Ökosystem beschritten wird, nicht auf einfachste Weise durch Vereinfachung auf zufällig zusammengesetzte Wechselwirkunge ‚abgekürzt‘ werden. Unsere Studie greift also einen aktuellen Aspekt der Nachhaltigkeitsdebatte auf.

Heißt das jetzt, dass alle mit Zufallsmatrizen berechneten Modelle von Ökosysteme falsch sind? 

Es ist allgemein so, dass kein Modell ‚richtig‘ ist. Es gibt Modelle, die nützlich sind, da sie helfen, die Natur besser zu verstehen. Wir argumentieren hier, dass Zufallsmatrizen nicht ausreichend sind, um die Stabilität von Arten-Netzwerken zu beschreiben, wenn diese Arten durch einen evolutionären Prozess aufeinander eingestellt wurden. 

Inwieweit sind diese neuen Erkenntnisse gesellschaftsrelevant?

Die Stabilität von Ökosystemen ist ein aktuelles Thema, insbesondere weil der Mensch für teils starke Störungen an bestehenden Ökosystemen verantwortlich ist und somit die Stabilität von Ökosystemen beeinträchtigen kann. Das zeigt sich etwa im Verlust von Artenreichtum, dabei ist gerade die Biodiversität essentiell für das ökologische Gleichgewicht. Mit unserem neuen Ansatz in der Modellierung werfen wir neues Licht auf die Frage, wie komplexe Ökosysteme einen Gleichgewichtszustand erreichen.

Publikation
Låstad, S.B., Haerter, J.O. The geometry of evolved community matrix spectra. Sci Rep 12, 14668 (2022). https://doi.org/10.1038/s41598-022-17379-6