Professor Gotthilf Hempel bei der 87. Ausgabe seines meeresökologischen "Dämmerschoppens" | Photo: Matthias Sabelhaus

08.03.2019 | Er ist einer der wichtigsten Zeitzeugen deutscher Meeres- und Polarforschung nach dem zweiten Weltkrieg. Er hat vier weltweit bedeutende Meeresforschungsinstitute in Bremen, Bremerhaven, Kiel und Warnemünde aufgebaut und geprägt. Er war 1000 Tage auf Forschungsschiffen in allen Himmelsrichtungen unterwegs – in der Antarktis und Arktis, den Tropen, in Nord- und Ostsee. Er gehörte zu den ersten Wissenschaftlern auf der Insel Helgoland. Er hat geforscht, gelehrt, geschrieben, geredet und geraten und rät und redet und schreibt noch immer über die marinen Welten, die sein Leben sind. Gotthilf Hempel ist der weise alte Mann der Meere.

Es gibt ein Leben vor dem Meer für Gotthilf Hempel. Der am 8. März 1929 geborene Göttinger wächst in einer liberal gesinnten Theologenfamilie auf, erlebt in Berlin als Schüler den Bombenkrieg und später ein Flüchtlingsdasein, studiert in Mainz und Heidelberg Biologie und Geologie. Mit 23 Jahren verlobt er sich mit Irmtraut Schneider, die mit ihm studiert hat. In der Tasche hat er eine Dissertation über den Energiebedarf der Fortbewegung von Insekten sowie ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Letzteres führt ihn 1952 nach Wilhelmshaven an das Max-Planck-Institut für Meeresbiologie – ein Glück für die marine Forschung, denn eigentlich, erzählt er gern, sei er nur aus gesundheitlichen Gründen an der See gelandet und daher Meeresbiologe statt Zoologe geworden.

Auf zur See

In Wilhelmshaven lernt er von Adolf Bückmann, einem international bekannten und vernetzten Fischereibiologen, die raue See und ihre Fische lieben. Auf Kuttern und Fischereischutzbooten trotzt er der Seekrankheit und macht sich Anfang der 50er Jahre auf Forschungsfahrten mit dem Vermessungsschiff Gauss des Deutschen Hydrographischen Instituts (1990 aufgegangen im Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, BSH) in Nordsee und Nordatlantik mit der Ozeanographie vertraut. Heringe und ihre Brut werden sein Spezialgebiet. Von Wilhelmshaven folgt der junge Wissenschaftler, gemeinsam mit Irmtraut, die er 1952 heiratet, seinem Mentor Bückmann nach Hamburg an das Institut für Hydrobiologie und Fischereiwissenschaft der Hamburger Universität. Weil dieser zugleich die Biologische Anstalt Helgoland (BAH) ausbaut, ist Gotthilf Hempel 1959 einer der ersten Wissenschaftler und zivilen Bewohner auf dem Oberland der rauen Nordseeinsel, nachdem sich das britische Militär zurückgezogen hat. Bückmanns internationale Kontakte und die frühen Erfahrungen enger Zusammenarbeit von Universität und außeruniversitären Forschungsinstituten prägen den jungen Fischereibiologen, dem in dieser Zeit auch Forschungsaufenthalte nach England, Schottland und Norwegen möglich sind, und der Mitglied des Advisory Committee on Marine Resources Research (ACMRR) der Welternährungsorganisation (FAO) wird.  Hier begegnet er der Weltelite der Fischereiforschung. Im International Council for the Exploration of the Sea (ICES), dessen Präsident er zwanzig Jahre später wird, lernt er präzise auf Englisch zu argumentieren. Seine englische Aussprache ist aber bis heute „teutonic“, wie er selbst sagt.

1964 habilitiert sich Gotthilf Hempel an der Universität Hamburg. In drei anschließenden Wanderjahren erweitert er seinen Horizont auf einer Vertretungsprofessur für Limnologie in Wisconsin/USA und in Paris im Sekretariat der jungen Intergovernmental Oceanographic Commission (IOC) der UNESCO. Dort arbeitet er daran, die Meeresforschung in den Nachfolgestaaten ehemaliger Kolonien aufzubauen. Die auf vielen Reisen gesammelten Erfahrungen motivieren und bestärken den ehrgeizigen, jungen Wissenschaftler darin, dass es für die Deutsche Meeresforschung auf die Einbindung in die internationale Gemeinschaft und den Auf- und Ausbau von universitätsnahen und global agierenden Instituten ankommt, um weltweit effiziente kooperative meereswissenschaftliche Forschung und Ausbildung möglich zu machen. „Ich habe ein Faible für das Internationale“, sagt Gotthilf Hempel, der 1967 auf den Lehrstuhl für Fischereibiologie am Institut für Meereskunde in Kiel berufen wird, das er von 1972 bis 1976 als geschäftsführender Direktor leitet und wo er bis 1981 bleibt und in dieser Zeit enge internationale Beziehungen aufbaut und pflegt.

Die Jahre am Institut für Meereskunde werden sehr fruchtbar. Er entwickelt ein umfangreiches Programm an Vorlesungen, Praktika, Seminaren und den besonders beliebten Auslandsexkursionen, Die Fischereibiologie wird zur marinen Ökosystemforschung ausgeweitet. Es geht um Meeresverschmutzung und Überfischung, komplexe Nahrungsnetze und langfristige ozeanographische Veränderungen (das Wort Klimawandel war noch nicht erfunden. Deutsche und ausländische Doktoranden bearbeiten Themen vor der Haustür in der Kieler Förde aber auch fernab, z.B. an der Küste Nigerias. Gemeinsam mit dem Ozeanographen Günther Dietrich und dem Meeresgeologen Eugen Seibold gründet er einen der ersten marinen Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Der interdisziplinäre SFB 95 „Meer-Meeresboden“ untersucht von 1971 bis 1982 das Ökosystem der Kieler Bucht. Er wird zur Brutstätte einer Generation junger deutscher Meeresforscher, die später die neuen Institute in Bremerhaven und Bremen bevölkern.

Ein unruhiger offener Geist ist immer unterwegs und sucht neue Aufgaben. Seinen 50. Geburtstag verbringt Gotthilf Hempel auf dem Forschungsschiff Meteor am Äquator Zwei Jahre später wird es Zeit für eine Phase mehrerer Institutsgründungen, denen Gotthilf Hempel den Stempel seiner eigenen Vielseitigkeit aufdrückt.

Vom Äquator an die Pole

Im Jahr 1981 geht Gotthilf Hempel als Gründungsdirektor des Alfred-Wegener-Instituts nach Bremerhaven und etabliert in der Bundesrepublik Deutschland die meereswissenschaftlich ausgerichtete Polarforschung. Er setzt um, was ihn geprägt hat: Wer hier leitet und forscht, lehrt zugleich an den Universitäten Bremen, Kiel oder Oldenburg, die Ausrichtung der Forschung ist international und interdisziplinär. Mit dem eisbrechenden FS Polarstern können nun große internationale Gemeinschaftsprojekte in Angriff genommen werden. So nimmt die junge deutsche Polarforschung schnell einen wichtigen Platz in der internationalen Gemeinschaft ein. und Gotthilf Hempel reist auf Forschungsschiffen mit internationaler wissenschaftlicher Besatzung über die Meere – mehr als 1000 Tage auf der FS Meteor oder FS Polarstern und anderen Schiffen. Er erinnert sich: „1986 stellten wir die Polarstern “ der European Science Foundation für ein halbes Jahr zur Verfügung. Dies Unternehmen  EPOS war meine schönste Antarktis-Expedition.“

Ursprünglich wird das Alfred-Wegener-Institut nur als Einrichtung für die Polarforschung geplant, die  sich im Gegensatz zu den übrigen Mitgliedern des Antarktisvertrages vor allem den Meeren widmen soll. Wegen des hohen logistischen Aufwandes wird es zur (kleinsten) nationalen Großforschungsanstalt. Ihr Aufbau, insbesondere die Gewinnung eines exzellenten Wissenschaftsstabes für den damals wenig attraktiven Standort Bremerhaven, hält Gotthilf Hempel für einige Jahre in Atem.

An der Universität Kiel, deren Professor er auch während seiner Tätigkeiten in Bremerhaven und Bremen bleibt, gründet er fast zeitgleich das Institut für Polarökologie, dessen Direktor er 1982 wird. Als Lehr- und Forschungseinrichtung wird  das IPÖ zur Brutstätte für Doktoranden, die hier ihre akademische Heimat haben und ihr Forschungsmaterial auf der Polarstern sammeln. Insgesamt promovieren ca. 70 Studierende bei Gotthilf Hempel in den drei Jahrzehnten seiner Kieler Lehrtätigkeit. Viele finden einen interessanten Arbeitsplatz in den neuen Instituten, manche gehen ins Ausland oder in die Verwaltung.

Der Springer-Verlag in Heidelberg möchte eine neue internationale Zeitschrift „Polar Biology“ begründen und überredet Gotthilf Hempel, assistiert von seiner Frau die Schriftleitung zu übernehmen. Schon seit den Hamburger Jahren hatte die beiden eine meereskundliche Zeitschrift und kleinere Instituts-Publikationen  redigiert.  Die Aufgabe „Polar Biology“ ist aber eine Nummer größer, weil die internationale Nachfrage schnell wächst. Trotzdem hält das Ehepaar 25 Jahre durch. Irmtraut ist die geheime Redakteurin ihres Mannes. Es gibt kaum eines seiner Manuskripte, das sie nicht vor der Veröffentlichung kritisch gelesen hat.

... und zurück in die Tropen

Schluss mit kalten Füßen befindet Gotthilf Hempel 1992, als er das AWI und damit nach 12 Jahren die Polarforschung in Bremerhaven verlässt. Mit 63 Jahren zieht es ihn in die Tropen und sein früher schon reges Interesse für den Aufbau der Meereswissenschaften in Ländern des Globalen Südens in internationalen und interdisziplinären Projekten regt sich wieder. Er bringt mit dem Bremer Senat das Zentrum für Marine Tropenökologie (ZMT) auf den Weg – heute das Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung. Das Zielgebiet sind die Küstenregionen der Tropen und Subtropen. Hierfür erhält das Institut drei Aufgaben: Natur- und sozialwissenschaftliche Forschung; Ökologische Aus- und Weiterbildung, gemeinsam für ausländische und deutsche Studierende; und Kommunikation und Koordinierung partnerschaftlicher Forschungsprojekte in diesen Regionen

So gerät mit den tropischen Küsten nach Antarktis, Arktis und Südatlantik eine ganz neue Erdregion in den Fokus der Bremer Meereswissenschaften. Eine wesentliche Grundlage für den Aufbau des jungen Instituts bildet das MADAM-Projekt (Mangrove Dynamics and Management), eine auf zehn Jahre angelegte BMBF-Förderung der bilateralen Zusammenarbeit mit Brasilien. Die Forschung an Korallenriffen gewinnt Mitte der Neunziger Jahre immer stärkere Bedeutung für das ZMT, das ab 1995 für das Rote Meer-Programm (Red Sea Programm in Marine Sciences, RSP) verantwortlich zeichnet. Da feiern Israelis, Palästinenser, Jordanier, Ägypter und Deutsche gemeinsam an Bord der Meteor im Golf von Aqaba den 70. Geburtstag von Gotthilf Hempel.

Das ZMT ist für Gotthilf Hempel die Umsetzung einer Aufgabe, für die er sich schon während seiner Tätigkeit in der Intergovernmental Oceanographic Commission der UNESCO (1964 -1966) stark gemacht hatte: den konsequenten und nachhaltigen Aufbau von Partnerschaften in den Meereswissenschaften. Das ZMT gründet er ausdrücklich mit Blick auf diese zentrale Aufgabe. Das Besondere ist sein dafür festgelegtes kurzes Regelwerk für internationale Kooperation in wissenschaftlichen Projekten: die sogenannten „Bremer Kriterien“. 1999 finden diese Kriterien Eingang in den Kodex der Deutschen Gesellschaft für Tropenökologie (GTÖ). In diesem Sinne stiftet er anlässlich seines 90. Geburtstages einen Preis für die besten Examensarbeiten von ausländischen Studierenden, die aus den Tropenländern an Bremer Hochschulen kommen.

Rolle im Zuge der deutschen Wiedervereinigung

Seit 1990 im Zuge der deutschen Wiedervereinigung ist er als Mitglied des Wissenschaftsrates ein gefragter Experte, um die wissenschaftlichen Einrichtungen der DDR in ein  gesamtdeutsches Wissenschaftssystem zu integrieren. Er bewertet mit einer Arbeitsgruppe alle Akademieinstitute für Geowissenschaften im weitesten Sinne und reist dazu kreuz und quer  durch die ganze ehemalige DDR von Rügen bis zum Erzgebirge. Es gilt die Forschung an den Universitäten zu stärken und neue, national und international konkurrenzfähige Forschungseinrichtungen zu schaffen. Er bemüht sich dabei, so behutsam wie möglich vorzugehen. „ Wir sind Gutachter, keine „Schlechtachter“, sagt Hempel zum Auftakt jeder Evaluation. In einem zweiten Durchgang wird ein zweibändiges Gutachten über die Umweltforschung im wiedervereinigten Deutschland erstellt. Gotthilf Hempel legt Wert darauf, dass sich dabei auch ostdeutsche Kollegen an der Bewertung westdeutscher Einrichtungen maßgeblich beteiligen. Nach der Begutachtung kümmert er sich um die Umsetzung der Empfehlungen des Wissenschaftsrates für die Polar- und Meeresforschung der DDR. Die über mehrere Institute verteilte – meist geowissenschaftlich orientierte Polarforschung wird in der neugeschaffenen Forschungsstelle Potsdam des Alfred Wegener Instituts zusammengeführt. Das Institut für Meereskunde der DDR in Rostock-Warnemünde wird zum Institut für Ostseeforschung (IOW), heute Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde umgebaut. Nachdem die Berufung des designierten Direktors scheitert, wird Hempel bis 1997 Direktor des IOW, das schnell ein wesentliches Glied im Netzwerk der deutschen Meeresforschung wird. Es bemüht sich aber zugleich um die Weiterentwicklung der alten Kontakte zu den Forschungspartnern in der östlichen Ostsee. Auch nach Namibia ins Auftriebsbiet des Benguela-Stromes gibt es alte Beziehungen, die nun mit neuen Mitteln aufgefrischt werden. Dabei entsteht eine fruchtbare Kooperation des IOW mit dem jungen ZMT in Bremen.

Die steile Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die heute international mitbestimmende Rolle der Meeresforschung in Deutschland sind von dem Namen Gotthilf Hempel nicht zu trennen. Viele Jahre lang ist er Vorsitzender der zentralen westdeutschen und europäischen Kommissionen der Meeresforschung. Er berät den Bremer Senat beim Ausbau des Wissenschaftsstandortes Bremen/Bremerhaven. Dabei setzt er sich z. B. für die Ansiedlung eines Max-Planck-Instituts in Bremen ein: Das Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie wird im Jahr 1992, ein Jahr nach dem ZMT gegründet.

Zahlreiche Ehrungen werden Gotthilf Hempel zuteil – 1993 unter anderem das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. 2004 verleiht ihm der Bremer Senat seine Medaille für Kunst und Wissenshaft, eine seltene Ehrung in der ordensscheuen Hansestadt. Die Stadt  Bremerhaven macht ihn zu ihrem Ehrenbürger. Er ist Mitglied der Akademie Europaea, der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften und der deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

Die Meere, die internationalen Institute im engen Austausch mit universitärer Forschung und Ausbildung und ihre Stärkung sind und bleiben das Wichtigste im Berufsleben von Gotthilf Hempel. Im Kreis junger internationaler Meeresforscher fühlt er sich am wohlsten. Gerne führt er sie erzählend durch Bremen und Bremerhaven. Sein reiches Wissen findet auch Niederschlag in meeresbiologischen Lesebüchern [, beispielsweise das im Springer-Verlag erschienene Faszination Meeresforschung: Ein ökologisches Lesebuch…] – und wenn er daraus vorliest, dann auch gerne bei einem guten Glas Wein und gutem Käse.

Das Ehepaar Hempel hat zwei Söhne, fünf Enkel, einen Urenkel und ein Hobby: den Denkmalschutz. Für die Restaurierung der Altäre alter Dorfkirchen in Mecklenburg haben sie die Stiftung "Kirche im Dorf” eingerichtet und unter das treuhänderische Dach der Deutschen Stiftung  Denkmalschutz gestellt.

Legendär ist sein meeresökologischer Dämmerschoppen, den der Unermüdliche vor 40 Jahren in Kiel ins Leben ruft und mit seiner Frau vor zehn Jahren in Bremen wieder erweckt. Einmal im Monat lädt er rund ein Dutzend Meeresforscherinnen und -forscher vom Doktoranden bis zum Emeritus zum wissenschaftlichen Gespräch ans ZMT. Die Themen sind so vielfältig wie die Runde selbst und reichen vom Bakterienleben im Meeresschnee über die Nützlichkeit von Meeresschutzgebieten bis zu den Wanderungen peruanischer Muschelfischer. Der wissenschaftliche Diskurs des Dämmerschoppens lebt nicht nur von dem versammelten Fachwissen, sondern vor allem von Gotthilf Hempels Moderation mit Humor, Wortwitz und ansteckender Begeisterung für das Forschen. Wenn es ihm dabei immer auch um disziplinäre Grenzüberschreitungen geht, dann ist das für sein Denken zutiefst konsequent: Was nützen schon eng gesteckte Routen, wenn es um die Weite und Tiefe und den Erhalt unserer Meere geht.

Autorin: Bettina Mittelstrass